Das Stereobild als Buchillustrationsmittel


Von Professor Dr. Erich Stenger, Berlin


Es ist ein erfreuliches Zeichen des wachsenden Interesses an stereoskopischer Bildbetrachtung, daß in neuester Zeit Bücher erschienen sind, die sich des Stereobildes zur Illustration bedienen und wiederum auf diesem Wege für die Stereoskopie werbend sich an einen großen Leserkreis wenden. Es ist dem Raumbild-Verlag Otto Schönstein zu danken, daß diese Art der Bebilderung eingeführt worden ist. Aber bereits an früherer Stelle (diese Zeitschrift I, 1935 S. 282) habe ich darauf hinweisen können, daß vor fast 80 Jahren bereits ein solches Buch als erstes seiner Art erschienen ist.
Dieses erste mit Stereophotographien ausgestattete Buch kam im Jahre 1858 in London heraus und hatte den schottischen Astronomen C. Piazzi Smyth als Verfasser, einen Mann, der in jener Frühzeit der Photographie unter den erschwerenden Umständen, unter denen damals noch die Herstellung von Lichtbildern litt, und auf Forschungsreisen, auf denen durch örtliche und klimatische Verhältnisse die Schwierigkeiten noch wesentlich erhöht wurden, ausgezeichnete Lichtbilder in dem Innern der großen Pyramide in Ägypten und schon vorher auf Teneriffa hergestellt hat. Jenes erste "stereoillustrierte" Buch: Teneriffe, An Astronomer's Experiment, war mit 20 Doppelbildern ausgestattet, die in den Text eingebunden waren und zu deren Betrachtung die Firma Negretti und Zambra in London einen besonderen zusammenlegbaren und auf die Bilder aufsetzbaren Betrachtungsapparat lieferte. Smyth weist darauf hin, daß diese Art der Buchillustration früher niemals versucht worden sei und daß sie bestimmt sei, die Natur in allen ihren Tatsächlichkeiten so getreu wie möglich für den Beschauer festzuhalten. Moritz von Rohr berichtete in einer beachtenswerten Arbeit über dieses Buch und Stereoskop (Photogr. Korresp. 67, 1931, 8, S. 28).
von Rohr teilte an vorher genannter Stelle auch mit, daß der Verleger Lovell Reeve im gleichen Jahre 1858 eine der Stereoskopie gewidmete Zeitschrift "The Stereoscopic Magazine" herausgegeben hat, die etwa sieben Jahre in England erschien.
Neuerdings konnte ich ein Buch erwerben, welches als eine Folgeerscheinung des ersten, mit plastisch wirkenden Bildern ausgestatteten Buches anzusehen ist, denn im gleichen Verlag entstand ein Werk von 352 Seiten: Narrative of a Walking Tour in Brittany, dessen Text von John Mounteney Jephson, einem Landpfarrer und Kunstschriftsteller stammte, und dessen Bilder aus einer "photographischen Expedition des Lovell Reeve" herrührten. Da das Vorwort des Buches das Datum des 1. Mai 1859 trägt, müssen die Bilder im Sommer 1858, also in dem schon mehrmals genannten Jahre, aufgenommen worden sein.
Auch in diesem Falle handelt es sich um Stereoaufnahmen, von denen jedoch nur je ein Teilbild in das Buch eingereiht wurde. Der Leser wurde darauf aufmerksam gemacht, daß entsprechende Doppel-, also Stereobilder der 90 photographischen Buchillustrationen (zum Preise von ? 5, 5s) nebst dem dazu gehörigen Betrachtungsapparat (zum Preise von 3s 6 d) käuflich waren. Man ging also von dem zuerst gewählten Wege ab, die Doppelbilder dem Buche einzureihen, und brachte nur noch das Einzelbild, vielleicht um den Stereoskopie-Liebhaber in jener Zeit der größten Verbreitung der plastisch wirkenden photographischen Aufnahmen zu einem zweiten Ankauf zu veranlassen.
Außer dieser Feststellung sind für uns heute Mitteilungen beachtenswert, welche der Verfasser des Buches gab und die ergänzt werden durch einige technische Ausführungen des photographisch tätigen Reeve. Der Verfasser schreibt, er habe den Entschluß gefaßt, eine fünfwöchige Wanderung durch die Bretagne zu machen und schildert nunmehr, wie durch einen Zufall aus dieser Wanderung ein photographisch-illustriertes Buch entstehen sollte: Er berichtet (S. 6-7):
"Während ich über meinen Plan nachdachte und Vorbereitungen traf, erzählte ich meinem Nachbarn, Herrn Lovell Reeve, der sich in unserem Orte mit Photographie beschäftigte, eines Tages davon. Er überlegte sich sofort, daß für meinen, mit stereoskopischen Ansichten illustrierten Wanderungsbericht sich Interesse zeigen werde; nach längerem Nachdenken, welches die beste Art sei, den Plan auszuführen, entschlossen wir uns zu Folgendem. Er selbst, von einem Berufsphotographen begleitet, reiste in einem gemieteten Wagen, er hielt in den hauptsächlichen Städten und machte Stereoskopien von allem Interessanten, welches ihm unterwegs begegnete, - während ich denselben Weg zu Fuß machte. Wir trafen uns unterwegs gelegentlich, reisten aber völlig unabhängig voneinander. Während des photographischen Prozesses war ich zum Warten nicht verurteilt, er brauchte mir aber auch nicht durch die Nebenstraßen, in denen ich manches studierte, was nicht im Bereich der Kamera lag, zu folgen. Das Ergebnis unserer Arbeit in unseren getrennten Gebieten ist jetzt in den Händen der Leser."
Nach dem Literaten Jephson ergreift der Techniker des Unternehmens Reeve das Wort; wir lernen jetzt die Arbeitsweise kennen:
"Unser Apparat bestand aus einer kleinen Landschaftskamera mit zwei Objektiven von Roß, einem schwarzen Zelt, etwa 4 Fuß im Geviert und 7 Fuß hoch, einen Tisch und einen Ausguß; das Ganze befand sich in einem mittelgroßen Handkoffer; dazu besaßen wir 2 Kästen Chemikalien, einen zum Gebrauch, den anderen als Vorrat, einen dritten Kasten, in dem eng beieinander ein Gros Gläser enthalten war, sechs Einsatzkästen zu 2 Duzend in sich schließend. Unsere Operation sollte sich lediglich auf den nassen Kollodiumprozeß beziehen, während das Lackieren der Platten erst nach unserer Rückkehr gemacht werden sollte. Man mußte sich die Reisestunden sorgfältig einteilen, um für die Arbeit das beste Wetter und das beste Tageslicht auszunutzen. Immer, wenn wir in eine fremde Stadt oder einen neuen Ort kamen, war es wichtig, erst einmal die aufzunehmenden Objekte und die beste Zeit zum Photographieren je nach dem Stand der Sonne auszuwählen, und zu überlegen, von welchem Standort aus das Objekt am besten zu photographieren sei, auch bezüglich der wirkungsvollen Gestaltung des Vordergrundes. Die nächste Überlegung war, einen Platz für unser Zelt zu wählen, möglichst nahe an zwei oder mehreren Aufnahmepunkten. So wurde es notwendig, daß wir bei Besichtigung von etwa 30 Städten und Dörfern im Verlauf von 30 Tagen unser Zelt an etwa 100 verschiedenen Stellen aufschlagen mußten, während mein fleißiger Photograph Herr Taylor ungefähr 200 Bilder aufnahm, von denen wir 90 zur Veröffentlichung ausgewählt haben. Die Abende waren vollständig damit ausgefüllt, die Ernte des Tages zu überschauen, alles wieder in Ordnung zu bringen und Platten und Chemikalien für das nächste Tageswerk vorzubereiten, wenn ich auch selbst nicht viel dazu beitrug."
Der für den Buchtext verantwortliche Jephson maß wohl nicht nur aus persönlicher Bescheidenheit, sondern in voller Überzeugung dem Bildinhalt des Buches die größere Bedeutung bei; er kam nochmals auf die Entstehungsgeschichte des Werkes zu sprechen und schrieb:
"Ich fühle mich verpflichtet, eine Erklärung der Öffentlichkeit abzugeben als Grund dafür, daß ich ein Buch veröffentlichte über ein so abgedroschenes Thema, wie die Ferientour durch eine französische Provinz, besonders da diese Provinz teilweise schon von Herrn Robert Bell in seinen entzückenden "Wayside Pictures" und ausführlicher noch von Herrn Weld beschrieben worden ist. Ich gebe zu, daß meine Erzählung selbst nicht wichtig genug ist, die Veröffentlichung zu rechtfertigen; ich lege sie deshalb lediglich als begleitender Freund und zur Unterstützung der interessanteren Stereoskopaufnahmen vor. Im Übrigen kann man bezüglich des literarischen Wertes nur behaupten, daß man es als das beste illustrierte Buch bezeichnen muß, das je erschienen ist. Selbstverständlich kann ich sagen, daß meine Fußtour durch die Bretagne völlig ihren Zweck erfüllt hat. Sie hat mir physische und geistige Kraft gegeben, um die Beschwerlichkeiten und kleinen Sorgen eines ländlichen Pastorats weitere zwei Jahre zu tragen. Zum Schluß kann ich nur die aufrichtige Hoffnung aussprechen, daß meine Erzählung im Verein mit den Stereoskopbildern andere Menschen, die unter ähnlich schwierigen Verhältnissen arbeiten, dazu anregen möge, ein ähnliches Erholungsmittel zu wählen, wie ich es als erfreulich und nutzbringend gefunden habe."
Schilderungen aus jenen Jahren der beginnenden Photographie sind nicht allzu häufig; mit Bewunderung und Staunen muß man die Leistungen jener Photographen betrachten und einschätzen, Leistungen, die in technischer Beziehung neuzeitlichen Ergebnissen nicht nachstanden, trotzdem jene Zeit eine aufopfernde berufliche Tätigkeit zur Voraussetzung hatte. Der neuzeitliche Lichtbildner weiß nichts mehr von allen jenen Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, als die haltbare lichtempfindliche Schicht, die Trockenplatte, noch nicht erfunden war. In jener Zeit war die ursprüngliche Form der Photographie, die Daguerreotypie bereits verdrängt, und das nasse Kollodiumverfahren hatte seinen Siegeszug begonnen. Es war das Verfahren, aus dem Talbot'schen hervorgegangen, welches auf Glasplatten ein kopierbares Negativ schuf. Aber jede Schicht mußte unmittelbar vor der Belichtung präpariert und sogleich nach der Belichtung entwickelt und fixiert werden. Das bedeutet, daß der Lichtbildner, wenn er außerhalb des Hauses fern von seinem Atelier arbeiten wollte, eine vollständige Dunkelkammer-Einrichtung mit sich führen mußte, ein Dunkelzelt oder einen Dunkelwagen mit Chemikalien, Schalen, Wasserbehältern und allem, was zur Fertigstellung eines Negativs nötig ist. Mit diesem Ballast zogen auch die Berichterstatter jener fernen Zeit durch die Bretagne und sammelten unter Einsatz ihrer vollen Arbeitskraft in müheseliger Arbeit alle jene Bilder, die dieses Wanderbuch schmücken. Gewiß kommt in dieser Schilderung garnicht zum Ausdruck, daß die Lichtbildkunst jener Zeit ein mühseliges Handwerk war, man wußte es nicht anders, als daß viele Schwierigkeiten überwunden werden mußten, und ahnte nicht, daß einige Jahrzehnte später die Photographie fast mühelos von statten gehen werde.
Der für den photographischen Teil des Buches verantwortlich zeichnende Levell Reeve hat in weiteren zahlreichen und zum Teil umfangreichen Anmerkungen nicht nur die einzelnen, im Buche vorhandenen Bilder beschrieben, sondern auch Mitteilungen über seine Aufnahmetätigkeit gemacht. Er hat auf diese Weise einen nicht unbeträchtlichen Teil des Buchtextes verfaßt, woraus auch an dieser Stelle noch einiges wiedergegeben werden soll, was die Begleitumstände einer photographischen Arbeit in jener Zeit zu schildern vermag. Neben vielem, was uns heute völlig belanglos erscheint, lesen wir Manches, was für die schwierige Lichtbildnerei damals wesentlich und deshalb beachtenswert ist.
Es herrschte steter Kampf mit ungünstigem Wetter, mit der notwendigen langen Belichtungszeit und - mit den Einwohnern, die entweder gleichgültig und teilnahmslos oder allzu teilnehmend waren und in beiden Fällen die Arbeit störten. Viele der im Bilde festzuhaltenden Sehenswürdigkeiten lagen am Marktplatz irgend eines Ortes; manche Aufnahmen mußten am Markttage hergestellt werden; da wollten die Leute nicht stillstehen, um ihre Beschäftigung nicht unterbrechen zu müssen (S. 50). Bewegten sich die Menschen genügend schnell, so wurden sie während der langen Belichtungszeit nicht abgebildet, höchstens verursachte eine weiße Kappe eine geisterhafte Spur auf dem Bilde (S. 52 ). Gruppenaufnahmen mißlangen stets, weil Neugierige oder Unverständige durch eine unerwünschte Bewegung das Bild verdarben.
Objekte im Vordergrund waren zur Erzielung des stereoskopischen Effektes notwendig; es lag nahe, Menschen entsprechend aufzustellen. Dies gelang mit Erfolg, wenn man Trachtenmodelle mit einem halben Franken beglückte (S. 175). Einen Ochsentreiber warb man mit einigen Kupfermünzen und "die Ochsen hielten bewundernswert still" (S. 188). In gleicher Weise bewährten sich gegen die Erwartung zwei Schimmel (S. 174). Kleingeld unter die Leute verteilt, führte gelegentlich zu Volksversammlungen, die die Aufnahme unmöglich machten, sodaß einzelne Modelle ausgesucht und die übrigen Menschen zurückgedrängt werden mußten (S. 297). Schwer war es, einer Frau verständlich zu machen, daß sie während der Belichtung nicht stricken dürfe, sondern "nur so tun müsse" (S. 295).
Das Photographieren im Freien war zu jener Zeit des Kollodiumverfahrens noch eine recht unbekannte Sache, und ein Lichtbildner, der irgendwo sein Dunkelzelt aufschlug, gab zu mancherlei Vermutungen Anlaß. So berichtete Reeve, er sei für einen wandernden Schuhmacher gehalten worden, als man die Lederbehältnisse seines Dunkelzeltes sah; und als er dann dieses aufstellte, vermutete man Vorbereitungen zu einer Theatervorstellung und frug, was aufgeführt würde (S. 12). Als das Zelt gelegentlich auf einem Friedhof aufgeschlagen wurde, benachrichtigte ein junges Mädchen den Pfarrer von dem gotteslästerlichen Treiben; dieser eilte herbei, ließ sich durch mannhafte Rede von der Wichtigkeit des Vorhabens überzeugen, zog den Hut und bat, ihn zu porträtieren (S. 123). Eine Obstfrau bot eine Schüssel Pfirsiche in Tausch gegen ihr Bildnis und war auch bereit, auf die Zusendung des Abzuges aus England nach Beendigung der Reise zu warten (S. 88).
Als man gelegentlich einen Gendarm aufnahm, zeigte er nach Fertigstellung mehrerer Platten solche Begeisterung für dieselben, daß er sie, die zum Trocknen der Schicht an eine Wand gestellt waren, in einem unbewachten Augenblick in die Hand nahm und seinen Daumen in der feuchten Kollodiumschicht verewigte (S. 171/72). Behördliche Kontrolle blieb den Lichtbildnern nicht erspart; kaum hatten sie sich an einem Orte durch Reisepaß als harmlose Reisende ausgewiesen, als schon wieder ein Organ der öffentlichen Ordnung erschien und sich mit der Auskunft nicht zufrieden gab, der Polizeigewaltige habe bereits die Arbeitserlaubnis erteilt; denn erst der zweite Fragende war die "oberste Spitze der Behörde" (S. 194).
So gab es neben der Arbeit mancherlei Freude und manches Leid auf dieser Photoreise durch die Bretagne, bei welcher Schriftsteller und Photograph, wie schon eingangs erwähnt, unabhängig von einander öfters verschiedene Wege einschlugen, die auf einer dem Buche beigegebenen Landkarte genau eingezeichnet sind. Eine Photoreise war ein Erlebnis für die Beteiligten und ein Ereignis für die Mitwelt. Dankbar müssen wir jener Pioniere gedenken, die vor fast 80 Jahren wagemutig eine Reise unternahmen, um den Zeitgenossen originalgetreue Bilder fremder Gegenden zu vermitteln. Und wenn diese Pioniere als Stereoskopiker durch die Lande zogen, so ist in unserer Zeitschrift diesen Schaffenden noch ganz besonderer Dank zu zollen.





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